Chinas Sozialkreditsystem ist die denkbar effizienteste Methode der Kontrolle, Verhaltenslenkung und Unterdrückung der Bevölkerung. Betroffen sind auch Christen.
Bettina Hahne-Waldscheck
7. November 2019

China hat sich in kurzer Zeit in den umfassendsten Überwachungsstaat der Welt verwandelt. Die kommunistische Partei hat die Macht der Digitalisierung erkannt und nutzt diese systematisch und rigide. Mit Hilfe von Smartphones, Datenspuren auf Computern, Überwachungskameras, Gesichtserkennung auf Strassen und in Verkehrsmitteln, bargeldlosem Zahlungsverkehr und Social Media wertet die Regierung pausenlos alle Daten ihrer Bürger aus, um das individuelle und kollektive Verhalten mit Sanktionen und Anreizen in die richtige Richtung zu lenken und jede Opposition im Keim zu ersticken. In dieser neuen Form des Datentotalitarismus ist es niemandem mehr möglich, seine private Gesinnung zu verbergen. Das neue chinesische «Sozialkreditsystem» macht dies möglich. Jeder Chinese hat zu Beginn seiner Erfassung einen Punktestand von tausend. Wohlverhalten wird mit Punkten belohnt, dem Staat missliebiges Verhalten mit Punktabzug bestraft.

Erfasst werden die Einkaufsgewohnheiten, das Strafregister, das Verhalten im Strassenverkehr, in der Öffentlichkeit, Partei-Treue, Reise- und Sozialverhalten, Kreditvergangenheit. Wer die falschen Filme schaut, die falschen Bücher kauft, die falschen Menschen trifft, sich politisch «nicht korrekt» verhält, grenzt sich damit selber aus und schadet sich und auch seinen Angehörigen. Die höchste Bewertung ist AAA. Die schlechteste Bewertung ist D – da liegt man bei unter 599 Punkten und steht auf der «schwarzen Liste». Wer sich irgendwo bewirbt, eine Wohnung mieten, ein Haus kaufen oder ein Kind zum Studium anmelden möchte, wird nach seinen Sozialpunkten gefragt. Bei zu geringem Punktestand schliesst sich jede Tür, wird das Verlassen der Heimatregion unmöglich, weil man kein Ticket für Bahn oder Flugzeug mehr kaufen kann.

Mit der Einführung der Religionsgesetze im Februar 2018 hat sich die Lage der Christen grundlegend geändert. Die Gesetze verlangen völlige Unterordnung aller Gemeinden unter den Staat. Jede Kirche wird videoüberwacht und muss regelmässige Kontrollen über sich ergehen lassen. Christen müssen mit massiven Nachteilen im öffentlichen Leben, mit Gefängnisstrafen oder gar Verlust ihres Lebens rechnen. Diese neue Art der Unterdrückung gilt für jeden in China, der sich nicht dem kommunistischen Regime anpasst.
Die chinesische Küstenstadt Rongcheng war eine der Ersten, die 2014 damit begann, und gilt als Vorzeigemodell. Seitdem hat sich die Datenerfassung immer mehr ausgeweitet. Schon im kommenden Jahr sollen die bisher noch lose durch einzelne Provinzen verbundenen Datenbanken in ein nationales System integriert werden. Das chinesische Big-Data-Projekt ist in Grösse und Ausmass weltweit beispiellos. Der Staat weiss, welche Filme man sieht, welche Freunde man trifft, welche Bücher man liest und was man in den Social Media macht. Äussert sich jemand regierungskritisch oder erhält Sozialpunktabzug wegen zu spät bezahlter Rechnungen, zieht das Strafen nach sich. So wird ein «schlechter» Bürger mit einem zu geringen Punktestand beim Abschluss von Versicherungen, bei der Jobvergabe und in seiner Reisefähigkeit eingeschränkt. Allein im vergangenen Jahr wurde diese Strafe laut «Global Times China» 11,14 Millionen Mal für Flüge und 4,25 Millionen für Hochgeschwindigkeitszüge verhängt. Einer der letzten Investigativ-Journalisten Liu Hu ist davon betroffen. «Ich darf auch kein Grundstück erwerben, keine Wohnung mieten, keine Hotels buchen, mein Kind kann nicht auf eine Privatschule gehen», erzählt Liu Hu. «Du spürst, dass du die ganze Zeit von der Liste kontrolliert wirst.» Wer einmal in Ungnade fällt, bleibt auf dem Radar. Das System vergisst nicht, im Gegenteil, es wird immer ausgeklügelter. Inzwischen ist es schon möglich, Menschen auch an ihrem Gang zu identifizieren und Rückschlüsse auf die Stimmung des Betreffenden zu machen.

Sebastian Heilmann, Professor für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier, bewertet die Totalüberwachung schlimmer als die in George Orwells Roman «1984» beschriebene. «In ‹1984› gab es ja noch Platz für private Zweifel. Chinas Machthaber streben hingegen an, dass die Menschen das System so verinnerlichen, dass sie die Steuerung der Partei gar nicht mehr wahrnehmen», sagte Heilmann in einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung». «Es gibt dann keine inneren Widerstände mehr, die Fernsteuerung wird zu einem selbstverständlich akzeptierten Teil des Lebens.» Es handle sich quasi um ein «sich selbst exekutierendes Überwachungssystem, das nach der vollen Entfaltung kaum mehr Polizisten braucht». Die Bürger, die sich über die neue Sicherheit freuen, machten zum grossen Teil freiwillig mit und ächteten jeden, der sich nicht der neuen Lebensweise anpasst.

Beängstigend im Hinblick auf die Zukunft ist, dass bei der Bewertung, was geduldet ist und was nicht, die Maschen schnell enger gezogen werden können – jemand, der sich heute nichts dabei denkt, wenn er einen amerikanischen Film sieht, kann schon nächstes Jahr alle Sozialpunkte verlieren, wenn der Film als westliche Propaganda eingestuft wird. George Orwells «1984» ist heute schon verboten.

Professor Heilmann nennt die Verschmelzung von digitalen Technologien mit den traditionellen Kontrollinstrumenten der KP «digitalen Leninismus». Er erklärt: «Der Beobachtete weiss nicht, dass er beobachtet wird, er muss nur wissen, dass er jederzeit beobachtet werden kann. Und dahinter steht die Idee des neuen Menschen. Der Traum einer Zivilisation, in der menschliches Verhalten so verändert wird, dass es kollektiv verträglich und im Sinne der Regierenden ist.»

Lesen Sie den ganzen Artikel in factum 08/2019.