Lange vor der Entstehung der jüdischen Nationalbewegung, dem Zionismus, engagierten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Christen für die kommende, verheissene Nation.
Stefan Frank
5. März 2018

Im letzten und in diesem Jahr häufen sich die Jahrestage, die im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel stehen. Da war der 2. November 2017, der 100. Jahrestag der Balfour-Deklaration (in welcher der britische Aussenminister Lord Balfour den britischen Zionisten zusagte, die «Regierung Seiner Majestät» betrachte «mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern»). Dann kam der 29. November 2017; 70 Jahre vorher, am 29. November 1947, hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Plan zur Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat votiert – er scheiterte bekanntlich an der Ablehnung der Araber und dem von ihnen begonnenen Krieg. Am 11. Dezember 2017 war es genau hundert Jahre her, dass der britische General Allenby durch das von seinen Truppen im Kampf gegen Türken und Deutsche eingenommene Jerusalem ging. Er ging zu Fuss, statt zu reiten, weil er der Überzeugung war, dass es nur Jesus Christus zustehe, auf einem Pferd in Jerusalem einzuziehen.

Wenn in diesem Jahr am 14. Mai der 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel gefeiert wird, dann kann man daran erinnern, dass auch Christen daran Anteil hatten. So wie die Ereignisse von 1917 und 1948 zusammengehören – die Balfour-Deklaration ermöglichte die Staatsgründung von 1948 –, so gibt es auch einen gewissen Zusammenhang zwischen 1917 und 1517: Die Reformation und das Wirken protestantischer Christen schufen das geistige Klima, das die Balfour-Deklaration möglich machte.

«Es war allein der Geist der Bibel, der das englische Volk dazu befähigte, die Berechtigung und moralische Billigkeit des Unternehmens wertzuschätzen, in dem alten Land eine freie, vereinte, gedeihende und tüchtige jüdische Nation hochzuziehen», schrieb Nachum Sokolow 1918 in seiner «Geschichte des Zionismus». Sokolow, der heute nicht mehr so bekannt ist wie Chaim Weizmann, war seinerzeit wohl der bekannteste britische Zionist. Mit Weizmann zusammen hatte er im Lauf des Jahres 1917 zahllose Gespräche mit Balfour und anderen Regierungsvertretern geführt, die dann zur Balfour-Deklaration führten.

Der Journalist und Übersetzer war einer der Ersten, der Hebräisch sprach und schrieb. Er war unter anderem für die Übersetzung von Theodor Herzls Roman «Altneuland» ins Hebräische berühmt. Sie erschien unter dem Namen Tel Aviv («Frühlingshügel») – dies wurde 1909 der Name der ersten hebräischsprachigen Stadt. Sokolows Worte haben also Gewicht.

Die Bibel ist, was die Rückkehr der Juden in ihr Land betrifft, so klar, wie sie nur sein kann. 1819 verfasste ein britischer christlicher Prediger namens Thaetetus ein Traktat namens «Aufruf an die Christen und Hebräer», in welchem er dazu ermunterte, die Juden bei der Rückkehr zu unterstützen. Er sagte darin sehr pointiert: «Diejenigen, die leugnen, dass ihr [die Juden] in euer altes Erbteil wiedereingesetzt werdet, könnten ebenso gut leugnen, dass ihr zerstreut worden seid. Denn ebenso gewiss, wie sich die Prophezeiungen eurer Zerstreuung und Bewahrung bewahrheitet haben, so werden sich die zahlreichen Prophezeiungen eurer Wiederherstellung verwirklichen und erfüllen.»

Auch wenn dies von der katholischen Kirche des Mittelalters geleugnet wurde, hat es immer Christen gegeben, die wussten, dass Gott einen ewigen Bund mit den Juden hat (1. Mose 17,7) und sie eines Tages in ihr Land zurückkehren werden, weil Er es versprochen hat. «Und er wird den Nationen ein Feldzeichen aufrichten und die Vertriebenen Israels zusammenbringen, und die Verstreuten Judas wird er sammeln von den vier Enden der Erde» (Jesaja 11,12–13). Es werde, so steht es in der Bibel, zu einer Zeit geschehen, da die Juden alle Hoffnung aufgegeben haben: «Zion sagt: Verlassen hat mich der HERR, der Herr hat mich vergessen. Vergisst etwa eine Frau ihren Säugling, dass sie sich nicht erbarmt über den Sohn ihres Leibes? Sollten selbst diese vergessen, ich werde dich niemals vergessen. Siehe, in meine beiden Handflächen habe ich dich eingezeichnet. Deine Mauern sind beständig. Deine Erbauer eilen herbei, deine Zerstörer und Verwüster ziehen aus dir fort. Erhebe ringsum deine Augen und sieh: Sie alle versammeln sich, kommen zu dir. So wahr ich lebe, spricht der HERR, ja, du wirst sie alle wie ein Schmuckstück anlegen und dich mit ihnen gürten wie eine Braut. Denn deine Trümmerstätten, deine verödeten Orte und dein zerstörtes Land – ja, nun wird es dir zu eng werden vor Bewohnern» (Jesaja 49,14–19).

Die Sammlung der Juden und die Heimkehr in ihr Land ist auch das Thema von Hesekiels Vision von den Totengebeinen, die wieder Fleisch und Haut erhalten und lebendig werden (Hesekiel 37). «Und er sprach zu mir: Menschensohn, diese Gebeine, sie sind das ganze Haus Israel. Siehe, sie sagen: Unsere Gebeine sind vertrocknet und unsere Hoffnung ist verloren; es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Herr, HERR: Siehe, ich öffne eure Gräber und lasse euch aus euren Gräbern herauskommen als mein Volk und bringe euch ins Land Israel. Und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch aus euren Gräbern herauskommen lasse als mein Volk. Und ich gebe meinen Geist in euch, dass ihr lebt, und werde euch in euer Land setzen» (Hesekiel 37,11–14).

In ihrer berühmten Chicagoer Rede vom 25. Januar 1948, in der sie die amerikanischen Juden um Spenden bat, um Waffen zur Verteidigung gegen die anrückenden Armeen zu kaufen, sagte Golda Meir, die spätere israelische Ministerpräsidentin: «30 000 Juden sind gleich neben Palästina auf Zypern interniert. Ich glaube, dass innerhalb einer sehr kurzen Frist, längstens innerhalb der nächsten zwei oder drei Monate, diese 30 000 bei uns sein werden, unter ihnen Tausende von Babys und Kleinkindern.» So war es prophezeit: «... und sie werden deine Söhne auf den Armen bringen, und deine Töchter werden auf der Schulter getragen werden» (Jesaja 49,22).
Nur wenige wissen, dass die Balfour-Deklaration von 1917 die wahre völkerrechtliche Grundlage der Gründung Israels ist. Denn sie wurde nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur von Grossbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten unterstützt, sondern bei der Konferenz des Völkerbundes in San Remo zum Ziel des Völkerbundes gemacht: Grossbritannien erhielt Palästina, was keine Nation war, sondern der Name für die Region, und ursprünglich auch das Gebiet östlich des Jordans, das heutige Jordanien, als Mandatsgebiet. Der Auftrag war, hier die Errichtung einer nationalen Heimstätte der Juden zu ermöglichen. Wer aber waren Lord Balfour und seine Mitstreiter in der britischen Regierung – Premierminister David Lloyd George und der hochrangige Diplomat Mark Sykes sind hier zu nennen –, die halfen, die Balfour-Deklaration möglich zu machen und den König davon zu überzeugen?

In ihrem Buch «Bibel und Schwert. Palästina und der Westen» schreibt die Historikerin Barbara Tuchman über Balfour, sein Motiv sei «eher biblisch als imperial» gewesen: «Lange bevor er jemals etwas vom Zionismus gehört hatte, interessierte er sich, von Kindheit an mit der Bibel aufgewachsen, besonders für das ‹Volk der Schrift›. Nach Mrs. Dugdale, seiner Nichte, Gefährtin und Biografin, war es ein ‹lebenslanges Interesse› und ‹entstand aus dem Umgang seiner Mutter mit dem Alten Testament und seiner Kindheit in Schottland›. Mit zunehmendem Alter wuchsen auch seine intellektuelle Bewunderung und seine Sympathie für bestimmte Aspekte jüdischer Philosophie und Kultur, und das Judenproblem der Neuzeit erschien ihm von immenser Bedeutung. Er sprach stets voll Eifer darüber, und ich erinnere mich, dass ich in meiner Kindheit von ihm den Gedanken aufnahm, die christliche Religion und Kultur habe dem Judentum gegenüber eine unermessliche Schuld, die sie schändlicherweise übel vergolten habe.»

Im Jahr 1895, schreibt Tuchman weiter, habe Lady Constance Battersea, eine geborene Rothschild, die Familie Balfour in ihrem Haus in Whittingham besucht. Es sei, berichtete Lady Battersea später, nach Tisch «viel über die Juden, die Einwanderung von Ausländern sowie über Synagogen, Chorgesang und Kirchen gesprochen» worden. Balfour habe dann ein Kapitel aus Jesaja «schön und ehrfurchtsvoll» vorgelesen.
Die Bibel also war die Inspiration.

(Artikelauszug aus factum 02/2018)