Mit der Inthronisierung als allmächtiger Sultan sieht sich Erdogan als Führer des sunnitischen Islam. Damit sind grosse Konflikte vorprogrammiert – mit Israel, aber auch inder islamischen Welt.
Thomas Lachenmaier
6. August 2018

Den meisten Kommentatoren, und auch den meisten Politikern in Europa, scheint es entgangen zu sein: Am 24. Juni haben die Türken mit dem Wahlzettel Weltgeschichte geschrieben. Sie haben den Weg frei gemacht zu einer Neuauflage des Osmanischen Reiches, welches Kemal Atatürk 1924 zu Grabe getragen hatte, nachdem es in einem letzten Aufbäumen noch die Ermordung von Millionen armenischer Christen verantwortete.

Es war ein langsamer, steter, ständiger, es war ein unbeirrter und strategischer Marsch, der Recep Tayyip Erdogan dahin gebracht hat, wohin er wollte und wo er heute ist. Jetzt ist er am Ziel angekommen: Es ist ihm gelungen, sich als islamischer Alleinherrscher mit umfassender, diktatorischer Machtfülle zu inthronisieren. «Es hat ein paar Jahrzehnte gedauert», konstatiert der israelische Undercover-Journalist Zvi Yehezkeli, der unlängst durch seine verdeckten Recherchen im islamischen Milieu in Deutschland Aufsehen erregte, «aber heute hat in der Türkei der sanfte Dschihad bereits gewonnen.»

Das türkische Parlament hat nichts mehr zu melden. Presse und Justiz sind gleichgeschaltet. Erdogan kann mit Dekreten regieren, wenn es ihm beliebt, oder den Notstand ausrufen, wenn es ihm passt. Das Osmanische Reich war gewissermassen tot, nun hat Erdogan tatsächlich geschafft, was sein Vordenker Ahmet Davutoglu in seinem Buch «Strategische Tiefe» beschrieben, angekündigt und gefordert hatte. Mit einer islamisierten diktatorischen Türkei ist eine Keimzelle des neo-osmanischen Reiches zu mächtigem, neuem Leben erwacht: Osmanisches Kalifat 2.0.

Schritt um Schritt hat Erdogan die von Atatürk säkularisierte Türkei dem Islam unterworfen. Jedes Mittel, welches auf dem Weg hilfreich war, hat Erdogan angewendet, demokratische ebenso wie jedes Nützliche andere. Mit zunehmender Machtfülle wurden die Mittel gewalttätiger. Spätestens mit dem «Putsch» eskalierten Erdogans Methoden. Tausende Staatsanwälte, Richter, Polizeibeamte, Journalisten und Politiker wurden in die Gefängnisse geworfen. Schon vor der Wahl waren die Justiz und fast alle Medien auf Linie gebracht worden. Mit dem grossen Schluck umfassender Befugnisse, den sich Erdogan aus dem Kelch der Macht gegönnt hat, wird sich jetzt niemand mehr trauen, sich ihm in den Weg zu stellen. Das Präsidialsystem gibt Erdogan umfassende Befugnisse.

Unmittelbar vor seiner Vereidigung hat Erdogan weitere 18 632 Staatsbedienstete entlassen. Darunter sind 9000 Polizisten und 6000 Armeeangehörige. Aber auch Mitarbeiter von Ministerien, Lehrer, Universitätsdozenten haben die Kündigung erhalten, sowie mehr als 1000 Angehörige des Justizapparates. Auch wurden drei weitere Zeitungen, zwölf Vereine und noch ein TV-Sender geschlossen.

Zuvor hatte Erdogan bereits mehr als 100 000 Staatsbedienstete entlassen. Darüber hinaus sitzen mehr als 77 000 Menschen in Haft. Zahlreiche Vereine und Medien sind per Ordre de Mufti geschlossen worden. Die meisten der Verhafteten warten noch immer auf ein Verfahren. Sie machen sich keine Hoffnungen auf einen unvoreingenommenen Richter. Die Säuberungswelle hat auch unzählige Richter und Staatsanwälte erfasst. Kein Richter kann es sich leisten, anders zu urteilen, als wie es dem Führer beliebt – sofern er nicht selbst hinter Gittern landen will.

Der Türkeikorrespondent Boris Kalnoky vergleicht die Verhaftungswellen mit den paranoiden Säuberungen Stalins in den 30er-Jahren. Mit jeder neuen Verhaftungswelle wird die typische Diktatorenangst – die vor den Untertanen – berechtigter. Erdogan schafft sich Hunderttausende Feinde im Land. Wer in der Türkei seinen sicheren Job als Militär oder Beamter verliert, fällt nicht wie in Zentraleuropa in eine soziale Hängematte. Es wundert daher nicht, dass er jetzt vermehrt auf Familienangehörige setzt. Seinen Schwiegersohn Berat Albayrak hat er zum Finanzminister berufen.

Artikelauszug aus factum 06/2018