Jeder Mensch ist als ewiges, einzigartiges und geliebtes Wesen geschaffen und berufen. In dieser Erkenntnis keimen die Hoffnung und die Zuversicht auf ein gelingendes Leben auf.
Thomas Lachenmaier
10. Januar 2021

Jeden Tag stirbt eine unabsehbare Anzahl menschlicher Zellen ab. Sie werden reproduziert, ersetzt. Manche Körperzellen haben nur eine Lebensdauer von Wochen, andere von Jahren. Dieser Reproduktionsprozess ist von äusserster Komplexität. Genetiker staunen, wie es möglich ist, jeweils zugleich die unermessliche Informationsfülle des gesamten Genoms zu übertragen. Diese informationstechnologische Leistung findet keinen Vergleich mit dem, was Menschen schaffen oder erfinden könnten – wahrlich ein geniales Prinzip der Überfülle. Dass dieser Vorgang der Neuschaffung einer unvorstellbar hohen und individuellen Informationsmenge in jedem menschlichen Körper permanent milliardenfach geschieht, sprengt unsere Vorstellungskraft. Und es wirft die Frage auf: Wie bleibt sich das Ganze gleich, wenn doch das Fragment, aus dem es sich bildet, ständig erstirbt und neu erschaffen wird? Was ist eigentlich das Gleichbleibende, das Identische, wenn doch alle Zellen nach einer weisen Ordnung absterben und sich erneuern? Was ist das Verbindende? Wer ist der Mensch eigentlich?

 «Wer bin ich?» – Jeder Mensch stellt sich diese existenzielle Frage. Und er weiss, dass dies die Frage nach einem gelingenden Leben, nach Lebensglück ist. Das Eigentliche scheint überhaupt nicht körperlicher Natur zu sein. Die beständige Neuerschaffung verweist auf das Identische, das Verbindende, das Nicht-Körperliche. Der Mensch ist – offenbar – vor allem ein geistiges Wesen. Tief im Inneren weiss jeder Mensch darum, dass er eine geistige Existenz, eine ewige Existenz, unsterblich ist. Er weiss, dass er nicht mit seinem Körper identisch ist, mit und in ihm keine bleibende Stadt hat. Die Bibel mahnt, die eigene Identität über den Tag des Todes hinaus zu denken – und damit klug zu werden.

Die Identität des Menschen erklärt sich, das zeigt sich hier, unter keinen Umständen aus einem Amalgam der Faktoren Zeit, Zufall und Materie. Der Mensch sieht erst, wer er ist, wenn er sich als das von Gott einzigartig geschaffene Wesen erkennt. So, wie Israel von Gott den erlösenden Herausruf aus der Vielzahl der Nationen in seinem individuellen Erkanntwerden von Gott erfährt («Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein», vgl. Jes. 43,1; 45,4), so darf auch jeder einzelne Mensch sich von Gott erkannt und bei seinem Namen gerufen wissen. In der Erkenntnis, ein Geschöpf Gottes zu sein, kommt der Mensch auf die Spur zu der erlösenden Antwort auf die Frage: «Wer bin ich?»

Der Mensch ist das besondere Geschöpf, ungleich den anderen. In der Schöpfung herrscht keine Gleichheit. Dabei ist es aber nicht die Intelligenz, die den Menschen zum Menschen macht, wie uns Evolutionsbiologen glauben machen wollen. Der Mensch wird dadurch zum Menschen, dass er von Gott mit einer Seele ausgestattet ist, für deren Existenz es niemals eine evolutionäre Herleitung geben wird. Gott hat den Menschen als sein Gegenüber ins Leben gerufen. Dieses individuelle Gerufensein und diese Stellung verleihen dem Menschen Würde und einen besonderen Wert, unabhängig von menschlicher Leistung und Ästhetik. Der Schwerstbehinderte ist in seiner Versehrtheit nicht weniger Gottes identisches Gegenüber wie derjenige, der nicht behindert ist. Auch der sehr schwer geistig behinderte Mensch, der vielleicht sogar über keinerlei kognitive Kompetenzen verfügt, nicht sprechen und – nach unserem Eindruck – nichts verstehen kann, ist in keiner Weise mit seiner Behinderung identisch. Man spürt, dass seine «eigentliche Existenz» zutiefst menschlich und unversehrt ist. Gerade am behinderten Menschen sehen wir, dass die körperliche und geistige Verfassung nicht den Kern des Menschseins bilden. Wir sollten uns nicht so viel auf unsere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zugutehalten – und auch Gesundheit und Leistungsfähigkeit nicht vergötzen. Der Behinderte ist ebenso Ausdruck des Herausgehobenseins des Menschen aus der Schöpfung wie jeder andere Mensch.

Allerdings – nach aussen definieren wir uns hauptsächlich über unsere Fähigkeiten, den Beruf («Ich bin ein guter Ingenieur, ein tüchtiger Arbeiter, ein zuverlässiger Mitarbeiter»), über unsere Familie («Ich kümmere mich um alle»), über unsere Aktivitäten in Politik, Gemeinde oder im Verein. All das sind Tätigkeiten, die «zu uns gehören», aber sie verändern sich. Unsere Identität ist nicht das, was wir tun, arbeiten oder wie wir leben. Sie kristallisiert sich nur darin. Sie wird sichtbar in dem, wie wir mit anderen Menschen umgehen. «Am Du gewinnt sich das Ich», hat Martin Buber erkannt. Im Kern aber ist die Identität des Menschen von Gott verliehen und somit unwandelbar und ewig.

Zu lehren, der Mensch könne sich frei aussuchen, wer er sein will, er könne sich im Laufe der Zeit auch wechselnde Identitäten zulegen – sogar sein genetisch-biologisch definiertes Geschlecht ablegen und austauschen – ist eine Verkennung von Wirklichkeit und Wahrheit, wie sie in der Geschichte der Menschheit wohl noch nie vorgekommen ist. Spottend könnte man darin eine Widerlegung von Darwins Theorie erkennen, wonach das «Survival of the fittest» den Menschen immer klüger und nicht immer dümmer macht. Die Frage nach dem «Wer bin ich?», nach der Identität, mit deren vermeintlich freier Wählbarkeit zu beantworten, ist eine Anleitung zum Unglücklichsein, der Fahrschein in ein vermurkstes, ein irrendes Leben.

Gott ist der Ewige, derselbe über alle Zeiten hinweg. Und die Identität des Menschen? Schon bevor er war, als Ungeborener, in seiner irdischen Existenz und auch nach jener Schranke des Todes: immer derselbe und als geistige Existenz unsterblich. Sein irdisches Verweilen ist ein begrenzter, ein kurzer, aber entscheidender Abschnitt dieser ewigen Existenz: Wird er den Weg finden zu einem ewigen Leben mit Gott? Das Tückische ist, dass sich der Mensch im Zustand der Trennung von Gott befindet: mit Leib und Seele ein Kind der gefallenen Welt. Der junge Mensch lebt und wächst heran und hält das Übliche – ganz selbstverständlich – auch für das Richtige. Zu merken, dass man ganz und gar «im Falschen» lebt, ist eine Erkenntnis, die man erst machen muss. Die Einflüsterung, die einen im Falschen hält, ist: «Sollte es nicht genügen, sich um ein gutes, anständiges Leben zu bemühen?»

Auf was kommt es also an? Was sollte der Mensch auf der Jagd nach diesem Glück der Erkenntnis seiner Identität tun? Nun, er tut gut daran, der Einladung zur Erkenntnis, die Gott schenkt, zu folgen. Das Wissen um die Ewigkeit der eigenen Existenz ist dem Menschen ins Herz gelegt (Pred. 3,11). Im Nachsinnen über diese Dinge, auch beim Betrachten der Schöpfung – in der so wunderbar alles Leben schaffend und schön verwoben ist – offenbart sich Gott dem Menschen. Ja, diese Offenbarung Gottes in Natur und Kosmos ist so offenbar, dass der Mensch nicht einmal eine Entschuldigung hat, dies zu verkennen (Röm. 1,20). Die Tatsache, dass Gott sich in der Schöpfung mitteilt – und erst noch in seinem Wort –, das allein schon zeigt die Zugewandtheit Gottes zu seinem Geschöpf, sein Erbarmen. Er hilft ihn zu erkennen in einer Welt, die sich doch von ihm losgesagt hat.

Der Wert, den Gott dem Menschen beimisst, zeigt sich auch in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dass Gott die Liebe ist – und zu einer solchen Liebe ist nur Gott fähig –, zeigt sich daran, dass er in Jesus Christus Mensch wurde. Seine Handreichung zu uns geht so weit, dass er alles auf sich genommen hat: die ganze Last, die Schuld unserer verkehrten Existenz, die sich in unseren falschen, angenommenen und gottrebellischen Pseudo-Identitäten zeigt. Der Mensch steht vor der Wahl: «Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst und am Leben bleibst, du und deine Nachkommen, indem ihr den Herrn, euren Gott, liebt und seiner Stimme gehorcht und ihm anhangt» (5. Mose 30,19–20 a). Wie antworten wir auf Gott – mit Ignoranz oder mit Anbetung? Wollen wir ihm «anhangen», das Leben wählen? Diese Schuldübernahme Gottes am Kreuz, diese Vergebung anzunehmen und Jesus zu vertrauen, ist die Umkehr zu Gott. Es ist auch der Weg, um die Frage «Wer bin ich?» wahrhaft beantworten zu können.

In dieser Erkenntnis, von Gott geschaffen zu sein, wird der Blick frei dafür, dass Gott uns hilft auf dem Weg zu unserer gottgeschenkten Identität, und bei den Aufgaben, die ganz individuell damit für uns verbunden sind. Im Epheserbrief steht dieses bedeutungsvolle Wort (Eph. 2,10), welches recht bedacht die liebevolle und ganz persönliche Einladung ist, mit Gottes Hilfe den rechten Weg für sich zu suchen, zu finden: Als Menschen sind wir Sein Werk, geschaffen zu guten Werken, die Gott im Vorhinein bereitet hat, auf dass wir darin wandeln. Diesen Weg will Gott mit seinem Licht erhellen, und er verspricht dem auf diesen Weg Umkehrenden, dass er ihn am Ende «hineinretten» wird in sein himmlisches Reich (2. Tim. 4,18). Wenn das keine Gute Botschaft ist!

In einem versöhnten Leben und mit der Erkenntnis, von Gott als ein einzigartiges Wesen geschaffen und geliebt zu sein, wird auch eine Versöhnung mit der gebrochenen Biografie möglich, die wohl jedem Menschen eigen ist. An dem Fassadenbau eines geschönten Selbstbildes und einer auf «gut und schön» getrimmten Identität, mit der man sich und andere täuscht, brauchen sich Christen nicht mehr zu beteiligen. Was für eine Befreiung! Sie beinhaltet das Recht, sich anzunehmen, so wie Gott einen angenommen hat. Der Tübinger Theologe Prof. Hans-Joachim Eckstein hat das Ermutigende dieser Tatsache einmal in diese treffenden Worte gefasst: «Wenn Gott für dich ist, wie kannst du dann gegen dich sein?»

Lesen Sie den ganzen Artikel in factum 01/2021.