Dass die Menschen früher glaubten, die Erde sei eine Scheibe, ist ein Mythos. 500 Jahre v. Chr. wussten die meisten Gelehrten, dass die Erde eine Kugel ist – und berechneten den Erdumfang.
Jeff Brown
4. Juni 2016

Meine Frau und ich besuchen eine erstklassige Ausstellung über Alexander den Grossen. Ich weiss bereits vieles über den Mann und seine Welteroberung. Aber hier lerne ich immer noch neue Sachen. Unsere Führerin ist intelligent, gut ausgebildet und kann die Fakten richtig interessant und zum Teil amüsant darstellen. Wir kommen schliesslich zu der griechischen Reise von Alexander dem Grossen, wo sein Heer am Ufer des Indischen Ozeans steht. «Hier», sagte die Führerin, «haben sie gedacht, dass sie zum Rand der Welt gekommen sind, weil die Menschen damals eben glaubten, dass die Welt eine Scheibe ist.» «Quatsch!», denke ich. Aber aus Respekt schweige ich.

Im Nachhinein denke ich, dass mein Schweigen ein Fehler war. Ich erkläre, warum. Der Lehrer von Alexander dem Grossen war Aristoteles. In seinem Buch Meteorologica beschreibt Aristoteles die Erde als kugelförmig mit einem Nordpol und einem Südpol. Alexander dachte, nahe zum Rande der bewohnten Welt zu sein, nicht am Rande der Weltscheibe.

Pauschal zu sagen, die Menschen in der Antike hätten geglaubt, dass die Erde flach ist, ist ein sehr unwissenschaftliches Statement. Etliche mögen dies geglaubt haben. Hätte man als Bauer gelebt, mit seltenem Kontakt über einen Umkreis von 50 Kilometern hinaus, so könnte man diese Weltsicht verstehen.

Auch manche Philosophen wie zum Beispiel Anaximander (550 v. Chr.) hielten zu der Überzeugung, dass die Erde eine Scheibe ist.1 Die Literatur aus der damaligen Zeit demonstriert aber, dass die Menschen in der Antike – vor allem die Gelehrten – von der Kugelform der Erde überzeugt waren. Pythagoras (ca. 570–510 v. Chr) und nach ihm Platon (ca. 427–347 v. Chr.) waren dieser Überzeugung.2 Der griechische Mathematiker Erastothenes hat 240 v. Chr. sogar den Umfang der Erde richtig berechnet. Krates von Mallos (150 v. Chr.) baute einen Globus, der drei Meter Durchmesser hatte, um die Erde darzustellen. Hundert Jahre später berichtet Cicero in seinem Werk De Natura Deorum («Vom Wesen der Götter») von einem Modell des Sonnensystems, worin die Erde als Kugel aufgebaut ist. Pliny der Ältere schrieb um 70 n. Chr. in seiner Naturalis Historia («Naturgeschichte»), möglicherweise etwas übertrieben, dass alle überzeugt seien, dass die Welt kugelförmig ist.

Man kann weiter rückwärts in der Geschichte suchen und finden, dass die Bibel die Erde als Kugel beschreibt: «Er ist es, der da thront über dem Kreis der Erde …» (Jes. 40,22). Bei Hiob steht (Hiob 26,7): «Er spannt den Norden aus über der Leere, hängt die Erde auf über dem Nichts.» Man kann auch weiter vorwärts in der Geschichte suchen und finden, dass durch das ganze Mittelalter hindurch die Gelehrten, mit wenigen Ausnahmen, von der Kugelform der Erde überzeugt waren. Der römische Politiker Boethius (gest. 526 n. Chr.)3 sowie der englische Historiker Beda Venerabilis (ca. 700 n. Chr.) und der Kirchenmann Johannes Scottus Eriugena (gest. 877 n. Chr.) sagten, dass die Erde ein Globus ist. Dante (1265–1321) beschrieb in seinem Werk «Die Göttliche Komödie» die Erde als eine Kugel.

Auch das Standardwerk für das Universitätsstudium in Astronomie im späten Mittelalter von Johannes de Sacrobosco, «De sphaera mundi», beschreibt die Erde als kugelförmig. Die französischen Akademiker Jean Buridan (gest. 1358) und Nikolaus Oresme (gest. 1382) lehrten nicht nur die Kugelform der Erde, sondern auch ihre Achsendrehung.4 Dr. Klaus Anselm Vogel argumentiert in seiner Dissertation, dass kein bekannter Schriftsteller nach 800 n. Chr. die Erde als etwas anderes als eine Kugel beschreibt (S.19).5

(Artikelauszug aus factum 04/2016)