Das höchste deutsche Gericht hat die im Strafrechtsparagrafen 217 festgeschriebene Regelung für nichtig erklärt, mit der die «geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung» unter Strafe gestellt worden war.
Thomas Lachenmaier
9. Juni 2020

Damit ist es in Deutschland erlaubt, sich gegen Bezahlung bei der Selbsttötung helfen zu lassen. Dieses Recht ist nicht auf schwere oder unheilbare Krankheiten beschränkt, sondern besteht «in jeder Phase menschlicher Existenz», so das Gericht. Professionelle Sterbehelfer hatten in Karlsruhe gegen das Verbot geklagt. Aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen zum Beispiel durch eine Spritze, bleibt in Deutschland verboten. In Holland, Belgien oder Kanada ist Euthanasie, die aktive Tötung von Menschen, zulässig und gängige Praxis.

Die «Deutsche Stiftung Patientenschutz» und Kirchen kritisieren, dass mit diesem Urteil alte und kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck gesetzt werden können, organisierte Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Die geschäftsmässige Unterstützung bei der Selbsttötung war ausdrücklich deshalb in Deutschland verboten gewesen, damit sich niemand unter Druck gesetzt fühlen muss, sein Leben vorzeitig zu beenden. Der Vorsitzende der Organisation «Ärzte für das Leben», Prof. Paul Cullen, erklärte: «Wir sind durch den Inhalt, aber auch den Ton dieses Urteils erschüttert.» Die Pressemitteilung des Gerichts lese sich, «als ob eine der Sterbehilfeorganisationen sie dem Gericht in die Feder diktiert hätte». Cullen kritisiert «die kaum verhohlene Drohung in Richtung der Ärzte», ihr Berufsrecht so zu ändern, dass ihnen im Bereich des Lebensrechts «kaum rechtlicher Spielraum verbleibt». Es handle sich um einen offenen Angriff auf die Gewissensfreiheit der Ärzte, so Cullen. Der Ärzteverband fordert, an der «uneingeschränkten Kultur des Lebens in der medizinischen Praxis und Forschung auf der Grundlage der hippokratischen Tradition» festzuhalten. Erst im Oktober 2019 hatte der Weltärztebund das Nein zum ärztlich assistierten Suizid bekräftigt. Zugleich unterstrich er, dass Ärzte dazu nicht gezwungen werden dürfen. Ärzte seien dem Leben verpflichtet. Diese Verpflichtung stehe zur assistierten Selbsttötung in diametralem Widerspruch.

Nach Meinung des Vorsitzenden des «Deutschen Ethikrates», Professor Peter Dabrock, hat das Gericht die lange Tradition in Deutschland verlassen, «Selbstbestimmung als vornehmster Ausdruck der Menschenwürde vorrangig zu achten und zu schützen, aber auch mit einer Rechtskultur des Lebensschutzes zu verbinden». Vor allem sei es «irritierend, dass das Gericht das Verbot dubioser Praktiken von Sterbehilfevereinen grundsätzlich aufhebt». Mit dem Urteil werde «der Weg in eine Gesellschaft regelrecht asphaltiert, in der Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht gerade noch dazu dienen werden, um die vorgeblich freiwillige Selbsttötung verzweifelter Menschen mit Hilfe Dritter staatlich zu legitimieren», sagte der Medizinethiker Prof. Axel Bauer.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Krauss bezeichnete die Entscheidung des Gerichts in einer Erklärung als «Urteil der Schande». Wann ein Leben ende, solle nicht in den Händen von Menschen liegen. Der bisherige Paragraf im Strafgesetzbuch habe verhindert, dass ältere und kranke Menschen in den Tod getrieben werden. Eine Änderung der Gesetzeslage schaffe die Gefahr, dass die Zahl der Selbstmorde von psychisch Kranken zunehmen werde. Als Folge des Urteils werde vermutlich auch «das Engagement erlahmen, Hospiz- und Palliativmedizin zu fördern».

Die Journalistin Birgit Kelle bezeichnete den Entscheid als «ethischen Dammbruch, dessen Folgen wir in ein paar Jahren als böse Quittung zu spüren bekommen werden». Wohin der Weg führe, zeige die Entwicklung in Belgien und Holland, wo zunächst nur als Ausnahmeregelung die aktive Sterbehilfe zugelassen wurde. Inzwischen wird dort Euthanasie praktiziert, und dies nicht nur bei körperlich völlig gesunden Sterbewilligen. Diese Praxis ist auf Minderjährige, Kinder, Behinderte und auch auf nicht einwilligungsfähige, wie etwa demente Menschen erweitert worden. Bereits ein Drittel der euthanasierten Belgier haben das nicht mehr selbst entschieden, sondern ihre Ärzte oder Verwandten, kritisiert Birgit Kelle. «Wer genau entscheidet eigentlich über den mutmasslichen Lebenswillen von behinderten Vierjährigen oder Neugeborenen?», fragt Birgit Kelle, «die Ärzte, die Verwandtschaft oder die Krankenkasse, die das teure Leben pflegeintensiver Patienten bezahlen sollte?» Opfer des vermeintlichen Rechts auf Selbstbestimmung werden jene, die sich nicht wehren können: Menschen im Mutterleib und solche, die alt, schwach, behindert, nicht mehr produktiv und «nützlich» sind. «Der Rechtsstaat gibt den Schutz des Schwächeren zugunsten des Stärkeren auf», erklärte die Ethikerin Susanne Kummer. Statt eines Rechts auf Selbsttötung brauche es mehr Solidarität mit Menschen in schweren Lebenskrisen.

Meldung aus factum 03/2020.